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» Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit den Menschen, welche dem Leben seinen Wert geben. «

W. v. Humboldt

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Neudefinition der Pflegebedürftigkeit

Wann ist ein Mensch pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes?

Ursprüngliche Definition (Pflegebedürftigkeitsbegriff) laut §14 SGB XI:

Pflegebedürftig sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen.

Eine weit gefasste und allgemein gehaltene Definition, die im Grunde alles abdeckt, auch die spezielle Betreuungsbedürftigkeit von Demenzkranken, würde nicht in Absatz 4 des §14 SGB XI, eine Einschränkung auf die rein körperliche und hauswirtschaftliche Versorgung gemacht. Diese Einschränkung steht genau genommen im Widerspruch zu der oben genannten Definition und ist die Ursache dafür, dass die psychosoziale Betreuungsbedürftigkeit bei der Feststellung und Einstufung durch den Medizinischen Dienst der Kassen (MDK) bislang keine Berücksichtigung findet.

Diese Einengung des Pflegebegriffes auf die Bereiche: Körperpflege, Ernährung, Bewegung und Hauswirtschaft wurde mit Vorsatz getroffen, denn damit konnte man die Versicherungsleistungen entsprechend begrenzen und kalkulieren. Es lag ganz klar in der Absicht der Väter der Pflegeversicherung, die 24 Stunden Betreuungsbedürftigkeit von Menschen mit Demenz auszuklammern. Eine Berücksichtigung des tatsächlichen Zeitbedarfs der hier aufgebracht werden muss, müsste zwangsläufig dazu führen, dass alleine die Diagnose Demenz ab dem Stadium 2, ungeprüft der Pflegestufe III entsprechen würde. Zu diesem Ergebnis kommt auch die zur Entwicklung und wissenschaftlichen Bewertung eines neuen Einstufungs- und Begutachtungsverfahren durchgeführte Studie.

Seit Einführung der Pflegeversicherung sorgen vor allem folgende Regelungen für regelmäßigen Verdruss:

1. Das Nichtanerkennen des hohen Zeitbedarfs für Beaufsichtigung und psychosoziale Hilfestellung. Pflegende Angehörige von Demenzkranken fühlen sich hier ebenso benachteiligt wie die Einrichtungen, da dieser Aufwand nicht in Personalstellen umgerechnet werden kann.

2. Die Machtposition des MDK – und die mitunter an Willkür grenzende Einstufungspraxis. Die Pflegekassen reagieren im Allgemeinen wie andere Versicherungen auch, indem sie bemüht sind die Einstufungen, also die Zahlungen, möglichst niedrig zu halten. Dieses hat u.a. zur Folge, dass in den Einrichtungen seither geradezu ein Dokumentationshysterie ausgebrochen ist.

Aufgrund der anhaltenden Kritik an der aktuellen Einstufungsregelung, die im Zuge des im Juli 2008 in Kraft getretenen Pflegeweiterentwicklungsgesetzes (Pflegereform), verstärkt zum Ausdruck kam, folgte die Gesundheitsministerin denen die meinten, man müsse die Pflegebedürftigkeit neu definieren und ein wissenschaftlich erforschtes Begutachtungsverfahren entwickeln. Unser Ansatz, die Pflegestufen komplett abzuschaffen und die Leistungen am individuellen Pflegeplan und Ergebnis auszurichten, wurde bestenfalls abgeheftet. Bei den Funktionären der Kassenverbände konnte dieser ebenfalls keinen Anklang finden, da man sich dort sehr gut mit der geltenden Regelung eingerichtet hatte. Die Einstufungs-Begutachtungen gehören beim MDK seit 12 Jahren zum festen, standardisierten Programm. Das ist gut durchorganisiert und läuft. Probleme damit hatten nicht die Kassen, sondern die Betroffenen oder ihre Angehörige bzw. Heimleiter/Personal.

In 2006 berief das BMG einen Beirat ein, der bis Ende 2008 eine Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs einschließlich des dazu notwendigen neuen Begutachtungs- und Einstufungsverfahren vorschlagen soll.

Das neue Verfahren zur PFLEGEBEGUTACHTUNG liegt seit Dezember 2008 vor  Presseerklärung des MDS 

Stellungnahme des Pflege-SHV zur Neudefinition der Pflegeeinstufung

Die umfangreiche Dokumentation und die Abschlussberichte sind durchaus lesenswert, zumindest für alle, die die Entwicklung und Inhalte nachvollziehen möchten. Man braucht schon einige Zeit um sich hier durchzufinden und einigermaßen verstehen zu können, wie das System aufgebaut ist und funktionieren soll. Ob sich die Beurteilten damit gerechter eingestuft fühlen, bleibt abzuwarten. Es dürfte bei diesem Verfahren jedoch sehr viel schwieriger sein, Einspruch gegen eine nicht erteilte oder nach eigener Einschätzung unzutreffende Pflegestufe zu erheben. Das Berechnungsverfahren, nach dem die Teilergebnisse der 8 Module zu einem Gesamtergebnis addiert werden, um daraus eine Zahl zu bilden, die sich in einer Pflegestufe ausdrückt, scheint kompliziert zu sein; wenngleich dieses Verfahren in den Berichten nicht konkret beschrieben ist.

Sollte den vorliegenden Empfehlungen entsprochen werden, ergeben sich im Wesentlichen folgende Änderungen:

Im Unterschied zum jetzigen Begutachtungsverfahren ist der Maßstab zur Einschätzung von Pflegebedürftigkeit nicht die erforderliche Pflegezeit, sondern der Grad der Selbständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten oder der Gestaltung von Lebensbereichen. Dies erscheint vom Grundsatz her sinnvoll und wird hoffentlich dazu beitragen, dass das Denken in Pflegeminuten und das Aufaddieren von Maßnahmen in der Pflegedokumentation möglichst bald verschwindet.

Das Begutachtungsassessment umfasst 8 Module:

1. Mobilität
2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
4. Selbstversorgung
5. Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen
6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte
7. Außerhäusliche Aktivitäten
8. Haushaltsführung

Die umfangreichen Einzelfaktoren sollen in 5 Abstufungsgraden erfasst werden (von völlig selbständig bis völlig unselbständig), wobei zwischen Pflege- und Hilfebedürftigkeit unterschieden wird:

Als 'hilfebedürftig' gelten Personen, die vorrangig im Bereich der Haushaltsführung (Modul 8) eine Beeinträchtigung ihrer Selbständigkeit aufweisen.

Als 'pflegebedürftig' sind hingegen Personen zu bezeichnen, "die in den Modulen 1 bis 6 Beeinträchtigungen bzw. Probleme aufweisen, unabhängig davon, wie das Einschätzungsergebnis für die Module 7 und 8 ausfällt."

Das neue Verfahren sieht 5 Pflegestufen vor, wobei Stufe 1 und 2 jedoch im Prinzip der heutigen Stufe 0 entsprechen würden, also keinen Leistungsanspruch hätten und Stufe 5 vergleichbar mit der Härtefallregelung wäre.

Lesen Sie hier die Abschlussberichte der beiden Hauptdokumente dieser Entwicklungsarbeit:

Teil 1 Das neue Begutachtungsassessment zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit, vom 25. März 2008

Teil 2 Abschlussbericht der Studie

Beim aufmerksamen Studium dieses 146 seitigen Berichts, finden Sie einiges Interessante. Ich lese eher ungern wissenschaftliche Arbeiten, aber diese war regelrecht spannend. So z.B. die Hochrechnungen der Ergebnisse dieser neuen Einstufungen auf die Versicherungsleistung. Hier werden mehrere Szenarien und Varianten vorgestellt, wobei die Kassen die Möglichkeit haben, über sog. Schwellenwerte, die Kostenentwicklung zu steuern. Je nachdem welcher Umrechnungsfaktor/ Zahlenwert bestimmt ist, ab dem eine bestimmte Stufe zugesprochen wird, verschieben sich die Einstufungsergebnisse nach unten oder nach oben. Auf die Gesamtsumme bezogen könnten das bedeuten, dass die Pflegeversicherung entweder rund 5 Milliarden Euro pro Jahr mehr ausgeben müsste oder die Ausgaben auf dem heutigen Stand bleiben würden. Wenn letzteres das Resultat sein sollte, dann ist die nächste Beschwerdelawine garantiert. Denn wenn die Demenzbetroffenen, wie in der Studie bestätigt, mit dem neuen Verfahren deutlich höher gestuft würden, müssen alle anderen insgesamt niedriger eingestuft werden oder in den Bereich der nicht Leistungsberechtigten fallen - anderes wäre Kostenstabilität auf heutigem Niveau nicht möglich.

Vorläufiges Fazit vom 3.12.2008: Dass es anders wird, steht fest! Dass es komplizierter wird, steht ebenfalls fest! Dass es besser wird - wohl eher nicht.

Solange sich die Versicherungsleistung nach einem, wie auch immer geartetes Stufensystem richtet, besteht die Tendenz eine möglichst hohe Einstufung zu erreichen, zumal das Pflegegeld/Sachleistung ohnehin nur einen Teil der tatsächlichen Aufwendungen ausgleicht. Der von diesem System ausgehende Anreiz zeigt in die falsche Richtung. Er verleitet dazu, den Bedürftigen noch bedürftiger erscheinen zu lassen, anstatt umgekehrt Aktivierungserfolge zu begünstigen.

Adelheid von Stösser, zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, St.Katharinen den 08.12.2008


29.Januar 2009: Der Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, legt der Bundesgesundheitsministerin den o.g. Bericht vor. Lesen Sie hier die Presseerklärung des BMG

Derzeit gültige Begutachtungsrichtlinien zur Feststellung der Pflegestufe. (Stand September 2009) GKV-Richtlinien zur Erfassung der Pflegebedürftigkeit