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» Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit den Menschen, welche dem Leben seinen Wert geben. «

W. v. Humboldt

TV-TIP:  11.08.2014 - 21.50 Uhr, Exklusiv im Ersten:   
Im Zweifel gegen den Patienten?  Der Kampf um die Pflegestufe

 

 

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Pflegestufen fördern Pflegebedürftigkeit

 

Gründe, die für die Abschaffung der Pflegestufen sprechen 

1.  Mit dem Pflegestufensystem wird schlechte Pflege belohnt und gute bestraft.

Die Pflegestufenregelung steht  im Widerspruch zur aktivierenden, präventiven oder rehabilitativen Pflege, wie sie §2 und §5 des SGB XI ausdrücklich fordert.

Zur Verdeutlichung und Erinnerung:
§ 2  (1) Die Hilfen sind darauf auszurichten, die körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte der Pflegebedürftigen wiederzugewinnen oder zu erhalten.  In § 5 steht:
(1) Die Pflegekassen wirken bei den zuständigen Leistungsträgern darauf hin, dass frühzeitig alle geeigneten Maßnahmen der Prävention, der Krankenbehandlung und der Rehabilitation eingeleitet werden, um den Eintritt von Pflegebedürftigkeit zu vermeiden.
(2) Die Leistungsträger haben im Rahmen ihres Leistungsrechts auch nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit ihre medizinischen und ergänzenden Leistungen zur Rehabilitation in vollem Umfange einzusetzen und darauf hinzuwirken, die Pflegebedürftigkeit zu überwinden, zu mindern sowie eine Verschlimmerung zu verhindern."

Das Regelwerk zur Umsetzung dieser Paragraphen wirkt jedoch in die entgegengesetzte Richtung:

Es verleitet dazu, den  Pflegebedürftigen bedürftiger erscheinen zu lassen als er tatsächlich ist. Nicht selten geht dies so weit, dass Mitarbeiter in Heimen gehalten sind, falsche Angaben  in der Dokumentation zu machen.  Beispielsweise indem  Bewohnern mit Demenz per se Inkontinenz bescheinigt wird,  auch wenn diese sich noch melden oder selbst zur Toilette gehen. Früher oder später werden sie  mit Windeln versorgt werden müssen und auch in den anderen Bereichen die Kriterien der angestrebten Pflegestufe erfüllen.   

 Heime bestrafen sich selbst, wenn sie einen Bewohner soweit aktiviert haben, dass er Dinge, die er vorher nicht mehr konnte, wieder kann. Korrekterweise müsste in solchen Fällen ein Antrag auf Herunterstufung gestellt werden. Die Fälle, in denen das  vorgekommen ist, dürften jedoch unter einem Prozent liegen. Oft ist es so, dass die Mitarbeiter angehalten werden, Aktivierungserfolge nicht zu dokumentieren.   Heimbetreiber die dennoch Wert darauf legen, dass ihre Bewohner aktiv und mobil bleiben oder wieder auf die Beine kommen, zählen zu den wenigen Idealisten. 

 Auch pflegenden Angehörige sehen sich durch die Regelung häufig im Zwiespalt, zumal  Pflegegeld oder Sachleistung in keiner Stufe dem tatsächlichen Aufwand entsprechen.  Also versucht man auch hier die Bedürftigkeit nach oben zu schrauben, um eine höhere Stufe zu erreichen.  

2. Hoher Aufwand, Ärger und Verdruss 

Da die  GutachterInnen des MDK  die Tendenz von Angehörigen oder Einrichtungen kennen, eine möglichst hohe Pflegestufe zu erreichen, sind diese geneigt, die Angaben in Frage zu stellen.  Außerdem ist der  MDK bestrebt, bestimmte Quoten nicht zu überschreiten. Dies wird zwar öffentlich nicht zugegeben, auch nicht von ehemaligen MDK Mitarbeitern, die ausgestiegen sind, weil sie das Geschachere satt hatten. Andere treiben es hingegen auf die Spitze, indem sie den Pflegebedarf, akribisch auf die Minute genau nachgewiesen sehen wollen.  Das wiederum führt auf Seiten der Pflegekräfte zur Ausuferung von  Dokumentationsbemühungen. Spezielle   Pflegedokusysteme wurden angeschafft,  welche die scheinbar geforderten Einzelleistungsnachweise  für jeden Handgriff erfassen und mit genauen Zeitangaben versehen.  Wie in einer Studie kürzlich ermittelt wurde, fließt rund 25% der Pflegezeit von Fachkräften in die Dokumentation.  Und diese ist zu einem hohen Prozentsatz der Einstufungsregelung geschuldet.

Vermutlich würde die Politik das System sofort in Frage stellen,  wenn die tatsächlichen Kosten bekannt wären,  die unsere Einstufungsregelung verursacht. Stattdessen jedoch, müssen wir in Zukunft mit noch mehr Bürokratie und systembedingten Kosten rechnen, wenn nämlich der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt wird.  Fünf Pflegestufen soll es dann geben. Wie diese genau unterschieden und ermittelt werden sollen, darüber zerbricht man sich noch  den Kopf.  Alternative Verfahren standen nie ernsthaft zur Diskussion.   

3. Pflegestufen wirken abwertend - sie ziehen den Menschen hinunter!   

Wer von uns möchte am Ende seiner Lebenslaufbahn eine Pflegestufenleiter erklimmen?  Wohl niemand mag sich brüsten, in Pflegestufe 1, 2 oder 3 zu sein. Schließlich handelt es sich um eine Leiter die nach unten führt, die den Verlust meiner Selbstpflegefähigkeit für alle erkennbar dokumentiert.  Auf der Pflegestufe 3 angekommen, werde ich selbst vielleicht nicht mehr realisieren, fast alle Fähigkeiten verloren zu haben, und völlig von anderen abhängig zu sein.  Hingegen erleben Pflegebedürftige in der Stufe 1 und 2 diesen Stempel durchaus,  der ihnen da verpasst wird. Einige sagen das auch klar. "Den ersten Stempel meiner Unfähigkeit habe ich schon."   Andere schämen sich, wollen nichts damit zu tun haben. Wieder andere reagieren aggressiv gegenüber dem Angehörigen, der ihnen den Gutachter vom MDK geschickt hat.  Immer wieder wundern sich Angehörige und Pflegekräfte, wenn sie erleben, wie sich der Einzustufende bei der Begutachtung präsentiert.   Selbst im Zustand fortgeschrittener Demenz bekommen Menschen offenbar mit, dass sie geprüft werden. Und wer das mitbekommt, gibt sein Bestes um bei der Prüfung gut abzuschneiden.  "Ich bin fassungslos", erklärte eine Angehörige, nach dem Besuch einer  Frau vom MDK. "Was meine Schwiegermutter alles konnte und wusste. Es hat mir die Sprache verschlagen. Doch kaum war die Gutachterin  aus dem Haus, legte sie sich ins Bett, zog ihre Windel aus und ich konnte wieder alles neu beziehen. Eine Pflegestufe wird sie bei diesem Auftritt sicher nicht bekommen. Das können wir vergessen."   Reaktionen dieser Art kennen alle die mit der Einstufungspraxis konfrontiert sind. Und man kann sie verstehen.  Eigentlich gehört dieser Punkt an die erste Stelle.  Ein System, das  Millionen  Menschen  erniedrigt und herabwürdigt,  zieht uns alle hinunter.  Auch wenn der gesellschaftliche Schaden der hiervon ausgeht, vermutlich nie genau in Zahlen ausgedrückt werden kann.

Wer hat einen Vorteil von dieser Regelung?

Allenfalls die vielen Tausend Pflegefachkräfte, die der MDK zu dem Zweck einstellen musste, die Pflegestufe festzustellen. Diese mögen sich freuen, sie haben jedes Wochenende frei, müssen nicht damit rechnen aus ihren freien Tagen abgerufen zu werden, weil es auf Station wieder einmal brennt. Sie kennen ihre Arbeitszeiten und müssen nicht, wie die Kolleginnen im Heim, täglich mit Dienstplanänderungen rechnen oder Überstunden machen. Außerdem zahlt der MDK den Pflegefachkräften einen tarifgemäßen, ordentlichen Lohn. Die Gehälter dieser Fachkräfte werden aus der Pflegekasse bezahlt.

Es wäre interessant zu erfahren, auf welche Summe sich der Aufwand beläuft, der zum Zwecke der Einstufungen betrieben wird. Angaben dazu obliegen scheinbar der Geheimhaltung. Fest steht, dieses Geld kommt den Pflegebedürftigen nicht zu Gute, sondern stützt ein System, das den Pflegebedarf fördert, indem sich fehlende Aktivierung und Verschlechterung bezahlt machen, hingegen Prävention und Rehabilitation  negativ auf die Einnahmen und Personalstellen auswirken. 

Weitere Zusammenhänge siehe  Positionspapier Personalschlüssel in der stationären Altenpflege

PDF - Negative Auswirkungen der Pflegestufen

Beispiel aus der Presse

Reaktionen der Politik auf unsere Kritik an den Pflegestufen:

Christian Weber, Leiter der Abteilung für Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik, Pflegeversicherung, Prävention beim BMG, konnte  mit unseren Bedenken überhaupt nichts anfangen. In einer zweiseitigen Erklärung legt er dar, dass alles bestens geregelt ist.  Das dieser Abteilungsleiter nicht den Hauch einer Ahnung hat, wie sich dieses Regelwerk in der  Praxis darstellt, macht sein letzter Satz deutlich: "Versicherte, die mit Entscheidungen der Pflegekasse nicht einverstanden sind, haben auch die Möglichkeit Widerspruch einzulegen oder eine Überprüfung durch die zuständige Aufsichtsbehörde zu veranlassen."   Lesen Sie hier die Antwort von Christian Weber 10/ 2013

Elisabeth Scharfenberg, Gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, zeigt da schon eher Verständnis. Allerdings kann sie sich keine Alternative zu einer  Einstufung vorstellen und will sich damit wohl auch nicht beschäftigen.   Ihre Argumente entsprechen denen, die das System der Pflegestufen entwickelt haben und bis heute als alternativlos verteidigen.   Lesen Sie hier die Antwort von Frau Scharfenberg, 9/2013

Alternative zu den Pflegestufen

Wer etwas kritisiert sollte Alternativen  nennen können.  Wir plädieren für die Einführungen folgender Regelungen:

  1. Individuelle Leistungsbemessung für die häusliche Pflege

  2. Pauschales Leistungsbemessung für die stationäre Pflege

Zu 1: Für die ambulante Pflege könnte die Regelung wie folgt aussehen:

In jedem Falle, in dem ein Antrag auf Pflegebedürftigkeit gestellt wird, würde nicht die Pflegestufe ermittelt, sondern der Hilfebedarf in der vorliegenden Situation. Dazu würde eine unabhängige Pflegesachverständige (Pflegestützpunkt- Gemeindepflegekonzept) gemeinsam mit dem Hilfebedürftigen und Angehörigen zunächst die Möglichkeiten der Selbsthilfe ausloten. Wo braucht es Unterstützung? Was können Angehörige übernehmen? Welche Angebote im Umfeld können einbezogen werden? Vermutlich könnte man viele Pflegekarrieren mit einer derartigen und frühzeitigen Hilfestellung gänzlich verhindern. Heute beschränkt sich die Funktion der Fachleute beim Medizinischen Dienst der Kassen (MDK) lediglich auf die Einstufung. Deren Hausbesuch dient keinem anderen Zweck, als festzustellen wie hoch der zeitliche Hilfebedarf ist um in eine bestimmte Pflegestufe eingestuft werden zu können. Diese Zeit gut bezahlter Fachleute könnte viel sinnvoller dafür genutzt werden, Hilfemöglichkeiten zur Aufrechterhaltung der Selbstständigkeit im eigenen Zuhause auszuloten und auf der Basis eines individuellen Pflege-/Kostenplans, die Kassenleistung zu berechnen. Beispielsweise könnte man festlegen, dass die Pflegekasse jeweils einen bestimmten Prozentsatz der tatsächlichen Kosten übernimmt, auch für 24-Stunden Betreuung, wenn nur dadurch ein menschenwürdiges Leben zu Hause ermöglicht werden kann.

Zu 2: Für die stationäre Pflege stellen wir uns folgenden Regelung vor:

Um Unterschied dazu, erscheint uns für die Heimpflege eine pauschale Leistungsbemessung vorteilhaft. Bei Pflegebedürftigen die im Heim leben, sollte die Pflegekasse einen bestimmten Betrag an das Heim zahlen, unabhängig von Art und Umfang der Hilfebedürftigkeit. Dieser Betrag könnte als Durchschnittsbetrag aller bisherigen Leistungen für die stationäre Pflege ermittelt werden.

Wie das konkret aussehen könnte, erfahren Sie in diesem Positionspapier

Allgemeine Information zu den Pflegestufen

Mit der Pflegeversicherung SGB XI wurde das heutige System der Einstufung eingeführt. Wer Leistungen der Pflegeversicherung beansprucht, muss einen Antrag bei der Kasse stellen. Diese  beauftragt den MDK (Medizinischen Dienstes der Krankenkasse) mit der Feststellung der Pflegebedürftigkeit. Nach einem bestimmten Verfahren ermittelt der/die MDK MitarbeiterIn den zeitlichen Hilfebedarf pro Tag, demzufolge eine Pflegestufe anerkannt und die entsprechende Leistung gezahlt wird, siehe Tabelle (Stand Jan.2012)

Pflegestufe
Stufe I
Stufe II
Stufe III
insgesamter Hilfebedarf ab
90 Minuten
180 Minuten
300 Minuten
davon Aufwand fürGrundpflege, ab
46 Minuten
120 Minuten
240 Minuten
Pflegegeld (bei häuslicher Versorgung)
235€
440€
700€
Sachleistung (wenn Pflege durch anerkannte Pflegedienste oder stationär im Heim erbracht wird)
450€
1100€
1550€
1918€ (bei Härtefall)

Demnächst soll ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt werden, der fünf Pflegestufen vorsieht.  Der Pflege-SHV warnt vor dieser Neuerung.