Foto Kopfbereich
» Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit den Menschen, welche dem Leben seinen Wert geben. «

W. v. Humboldt

Schrift vergrößern

 

 

 

 

 

 

 


 

Positionspapier

Positionspapier 08/2006

Bezugnehmend auf die Ergebnisse des Runden Tisches Pflege (RTP), die jüngste Studie des Deutschen Institutes für Menschenrechte (DIMR) und die geplante Pflegeversicherungsreform bezieht der Pflege-Selbsthilfeverband e.V. (Pflege-SHV) folgende Positionen:

1. Verbesserung der Effektivität von Kontrollen

Grundsätzlich ist es Aufgabe des Staates, die Einhaltung bestehender Gesetze kraft seiner hoheitlichen Kompetenzen zu überwachen und bei Nichtbeachtung entsprechende Strafen zu verhängen. In den meisten Lebensbereichen funktioniert das auch weitgehend. So ist es selbstverständlich, dass die Polizei unangekündigt Verkehrskontrollen durchführt und Autofahrer aus dem Verkehr zieht, die durch ihr Verhalten das Leben anderer gefährden. Hingegen setzt man in Pflegeeinrichtungen auf Selbstkontrolle. Außer in Bayern kommen Heimaufsicht und MDK regelmäßig nur nach tagelanger Vorankündigung zum Kontrollbesuch (von Sondersituationen einmal abgesehen). Hinzu kommt, dass bei diesen Kontrollen hauptsächlich die Erfüllung formaler Vorgaben geprüft wird, nicht das Ergebnis. Beispielsweise wird darauf geachtet, dass die Dokumentation vollständig ist. Ob das Dokumentierte den Tatsachen entspricht, wird hingegen nicht geprüft und wäre mit den üblichen Methoden auch schwer festzustellen. Dabei ist allgemein bekannt, dass die Pflegedokumentation leicht nachträglich verändert (schlicht gefälscht) werden kann und häufig nicht den Tatsachen entspricht. Auf dem Papier hat der Bewohner z.B. zwei Liter getrunken, tatsächlich saß er womöglich den ganzen Tag vor einem leeren Glas bzw. einer vollen Flasche, die niemand für ihn geöffnet hat. Schwer zu beweisen, zumal wenn der Bewohner angeblich demenzkrank ist!

Kürzlich sorgte eine Studie des Deutschen Institutes für Menschenrechte für Schlagzeilen, da diese im Wesentlichen bestätigt, was Betroffene der Nation seit langem klar zu machen versuchen. Doch in den Ministerien scheint man von diesen Zahlen und Aussagen genauso wenig berührt, wie von den zahlreichen Selbstanzeigen leitender Pflegekräfte oder den Büchern und Berichten über Missstände in deutschen Pflegeeinrichtungen. Am bestehenden Kontrollsystem werden die Verantwortlichen vermutlich trotzdem nichts ändern. Das Plädoyer von Claus Fussek, Prof. Hirsch, Helmut Wallrafen-Dreisow und mir für effizientere und unangemeldete Kontrollen wurde zurückgewiesen bzw. stillschweigend übergangen. Solange sich die Politik den Heimbetreibern offenbar mehr verpflichtet fühlt, als den hilflos ausgelieferten Menschen in den Einrichtungen, wird es keine nennenswerte Verbesserung in diesem Bereich geben. Selbst wenn sämtliche Empfehlungen des RTP umgesetzt würden, das jetzige Kontrollsystem jedoch bleibt, wären die Betroffenen vor der Missachtung ihrer Rechte nicht mehr geschützt als heute.

Das derzeitige Prüfverfahren in Altenheimen ist völlig unzureichend. Eine Kindergärtnerin dürfte kein Kind stundenlang auf der Toilette sitzen lassen, wenn Pflegekräfte das tun, entschuldigt man das mit Personalmangel. Eine Lehrerin darf keinen unruhigen Schüler am Stuhl fixieren, in Pflegeheimen passiert das tausendfach jeden Tag. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden.

Unter den Mitgliedern unseres noch jungen Pflege-Selbsthilfeverbandes e.V. herrscht eine klare, widerspruchslose Einigkeit in der Forderung nach effizienten Qualitätskontrollen.

Derzeit planen wir ein "Gütesiegel für menschenwürdige Pflege", eine Bewertung der Lebens- und Arbeitsqualität in Einrichtungen anhand subjektiver Kriterien und würden uns wünschen, dabei in jedweder Hinsicht Unterstützung bzw. Förderung zu erfahren.

2. Stärkung der Rechtsstellung von Pflegebedürftigen gegenüber Institutionen

Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei, zumal bei alten Menschen, die nicht mehr selbst für sich eintreten können. Durch die Verbreitung der Charta wird sich die Rechtslage der Betroffenen nicht automatisch verbessern.

Mitarbeiter oder Angehörige, die sich um menschenwürdige Verhältnisse bemühen und Missstände offen ansprechen, haben in aller Regel das Nachsehen. So kommt es regelmäßig vor, dass ein neuer Mitarbeiter ohne jede Information beauftragt wird, eine bestimmte Anzahl von Bewohnern bis zu einer bestimmten Zeit versorgt zu haben.

Beispiel: "Von 7.00 bis 9.00 Uhr musste ich 12 Bewohner, mir vollkommen fremde Menschen, gewaschen, angezogen und mit Frühstück versorgt haben. Als ich daraufhin der Heimleiterin erklärte, dass mir beim Einstellungsgespräch von einem wunderbaren Konzept vorgeschwärmt wurde und ich die Stelle nur deshalb angenommen habe, weil ich hoffte, etwas von meinem gerontospychiatrischen Fachwissen umsetzen zu können, bekam ich die Kündigung". Dies teilte mir vor wenigen Tagen eine engagierte Altenpflegerin telefonisch mit; sie ist inzwischen Mitglied bei uns.

Dabei handelt es sich keineswegs nur um ein bedauerliches Einzelbeispiel. Vielmehr ist es eher die Regel, dass Heime ein wahres Altersparadies auf Erden versprechen, tatsächlich jedoch so wenig Personal vorsehen, dass elementarste Selbstverständlichkeiten, wie ausreichende Hilfe beim Essen und Trinken, nicht gewährleistet sind. In keinem anderen Bereich unserer Gesellschaft dürfte soviel Augenwischerei betrieben werden.

Unsere Forderung an dieser Stelle:

- Rechtsverletzungen im Umgang mit Pflegeabhängigen müssen ebenso geahndet werden, wie Misshandlungen von Kindern oder Tieren. Der Tierschutz scheint heute bereits besser ausgebaut als der Schutz pflegeabhängiger, alter Menschen vor dem Verhungern, Verdursten oder Verwahrlosung.

- Pflegemitarbeiter, Angehörige oder andere Personen, die Rechtsverletzungen gegenüber Schutzbefohlenen zur Anzeige bringen, müssen ernst genommen und vor Nachteilen / Repressalien geschützt werden. Derzeit haben Heimbetreiber alle Rechte auf ihrer Seite, per Vertrag gebieten sie dem Mitarbeiter über alle Vorkommnisse zu schweigen. Wenn er dazu nicht bereit ist, trennt man sich von ihm und bedroht ihn mit Abmahnung, Verpflichtungserklärung und Geldforderung wegen Rufschädigung. Dazu kann der Pflege-SHV eindrucksvolle Einzelfallsituationen benennen.

Neben der ungenügenden Kontrolle von Seiten des Staates ist diese Knebelung einer der Hauptgründe dafür, dass die Menschenwürde in einem Großteil deutscher Heime mit Füßen getreten wird, ohne dass dies nach außen hin sichtbar wird.

3. Abschaffung der Pflegestufen und Einführung einer individuellen Bedarfs- und Leistungsbemessung

Die Pflegeversicherung hat einige gravierende Webfehler, insbesondere sei hier die Pflegestufenregelung genannt, auch wenn uns klar ist, dass die Politik zu einer grundlegenden Reform nicht bereit sein wird. Zu sehr haben sich alle Etablierten mit dem bestehenden System arrangiert, viele schlagen daraus regelrecht Kapital. Tausende von Arbeitsplätzen wurden geschaffen. MDK und MDS beherrschen seither die Schlagzeilen, haben sich als unbeliebte Kontrollinstanz Rang und Namen verschafft. Nein, dieses Stufensystem und der damit verbundene Streit ist kaum noch wegzudenken. Dennoch überwiegen die nachteiligen Auswirkungen dieser Regelung bei weitem die Vorteile, weshalb eine wirkliche Reform unbedingt dort ansetzen müsste.

1. Dieses Stufensystem verleitet Leistungsanbieter wie auch Angehörige dazu, den pflegebedürftigen Menschen bedürftiger erscheinen zu lassen als er tatsächlich ist. Manche Einrichtungen verbieten ihren Mitarbeitern regelrecht, die Bewohner zu aktivieren und Verbesserungen zu dokumentieren. Denn je höher die Pflegestufe, desto mehr zahlt die Kasse. Diese Regelung steht im Widerspruch zum Grundsatz: Rehabilitation vor Pflege, sie bietet null Anreiz für Prävention und Rehabilitation. Vor dieser Regelung waren Einrichtungen häufig bemüht, ihre Bewohner möglichst lange fit zu halten, damit sie weniger Arbeit hatten, seither hat sich diese Haltung vielfach umgekehrt.

2. Streitereien um die gerechte bzw. ungerechtfertigte Einstufung nehmen einen viel zu großen Raum ein, hinter dem die Bedürfnisse und Nöte der Pflegebedürftigen verblassen.

3. Die Dokumentation dient überwiegend nur noch dem Zweck, den MDK zufrieden zu stellen und die gewünschte Einstufung abzusichern.

In Zahlen können Zeit und Kosten nicht angegeben werden, die zur Erfassung und Rechtfertigung der Einstufung regelmäßig aufgebracht werden. Es gibt darüber keine Untersuchung. Solche wirklich sinnvollen Untersuchungen werden nicht in Auftrag gegeben. Das Ergebnis will man lieber gar nicht wissen, denn dann müsste man diese Regelung mit Sicherheit abschaffen und das will man nicht.

Alternativ schlagen wir eine an der individuellen Planung ausgerichtete Leistungsbemessung und Ergebniskontrolle vor. Konkret ausgearbeitete Vorschläge und Berechnungen leite ich bei Interesse gerne zu.

4. Abschaffung des Modulsystems in der ambulanten Pflege - Einführung eines ganzheitlichen Systems, z.B. das der Family Nurse

Von der Gemeindeschwester früherer Zeiten ist nicht mehr viel übrig geblieben, seit Pflegende von einem zum anderen hetzen müssen und nach Einzelleistungen vergütet wird. Dabei sind die Zeiten so knapp kalkuliert, dass für Zuwendung oder ein Gespräch, welches vielleicht viel wichtiger wäre als die Blutdruckmessung etc., keine Zeit bleibt. Das Angebot der ambulanten Pflege ist für viele Betroffene uninteressant, weil es an den tatsächlichen Bedürfnissen völlig vorbei geht. Wer mehr Hilfe braucht als das, was der Leistungskatalog der Kassen hergibt, kann diese sehr viel billiger auf dem Schwarzmarkt beziehen. Die Zeitungen sind voll von Anzeigen wie: "Suche zuverlässige, hilfsbereite Frau für …“, oder „Pflegerin mit guten Deutschkenntnissen bietet …". Die verantwortlichen Akteure bei den Kassen und Verbänden beklagen diesen Zustand zwar einerseits und fordern die Politik auf, endlich etwas gegen die Schwarzarbeit in der Pflege zu tun. Sie wollen jedoch nicht wahrhaben, dass ihr Angebot – ihr Moduldenken und die Starrheit und Sturheit, mit der dieses System verteidigt wird, schuld daran ist.

Derzeit werden zwei recht unterschiedliche Alternativansätze geprüft, die von der WHO entwickelte "Family Nurse" (Bis 2010 soll sie in Deutschland eingeführt sein - laut unterzeichnetem WHO-Europa-Vertrag.) und das sog. Pflegebudget. Während letzteres keine Alternative darstellt, sondern lediglich eine gewisse Dynamisierung des bestehende Systems verspricht, erfordert die Family Nurse vom Prinzip her eine grundlegende Reform in eine durchaus richtige, weil ganzheitliche Richtung. Nach ursprünglichem Verständnis verkörpert die Family Nurse eine Mischung aus Sozialarbeiterin, Pflegefachkraft, Hauswirtschafterin und Pädagogin, sie hat demnach Ähnlichkeit mit der früheren "Gemeindeschwester". Wichtig wäre aus unserer Sicht: zugehende, individuelle Hilfe aus möglichst einer Hand. Wir favorisieren das Familiy Nurse Modell, haben jedoch Sorge, dass daraus ein neues kompliziertes und viel zu teures Konstrukt wird, ein Angebot, welches Pflegebedürftige aus eigenen Mitteln nicht bezahlen können.

In Zusammenarbeit mit Pflegediensten, die aus dem derzeit engen Korsett heraus wollen oder teilweise bereits alternative Wege gehen, sind wir dabei, ein alternatives Konzept durchzuplanen. Insgesamt sieht sich der Pflege-Selbsthilfeverband e.V. dem Grundsatz der Pflegeversicherung: "ambulant vor stationär" verpflichtet. Das unzureichende Angebot an Hilfestellung bei der Betreuung zu Hause, lässt nicht nur die Schwarzarbeit blühen, es macht in vielen Fällen Heimeinweisung erforderlich.

5. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit abbauen statt diese zu vergrößern

Die Kluft zwischen Theorie und Praxis in der Pflege war nie so extrem wie heute. Während in der Praxis zunehmend Hilfskräfte ohne jede Anleitung, geschweige denn Ausbildung, auf kranke, alte Menschen losgelassen werden und selbst den Fachkräften oft die Zeit für das Nötigste fehlt, streben Berufskolleginnen an den Universitäten eine weitere Akademisierung der Pflegeberufe an. Auf der einen Seite werden selbstverständliche Pflegemaßnahmen, wie die tägliche Körperpflege, zu einer Wissenschaft hochstilisiert, wodurch sich pflegende Angehörige geradezu diskriminiert vorkommen müssen. Auf der anderen Seite wäre es nicht bezahlbar und auch aus sozialer Sicht keineswegs erstrebenswert, jeden pflegebedürftigen Menschen ausschließlich von Fachkräften betreuen zu lassen. Die Angebote deutscher Pflegedienste hinken weit hinter dem Bedarf hinterher, sie sind zu starr, zu körperbezogen und gemessen am Nutzen für den Verbraucher schlichtweg zu teuer. Weil die deutschen Leistungsanbieter kein passendes Angebot machen können, greifen viele auf illegale Pflegekräfte aus Osteuropa zurück. Schwarzarbeit in der Pflege wird derzeit auf über 70.000 Personen geschätzt.

Die Empfehlungen des RTP sind weit davon entfernt, hier eine adäquate Lösung aufzuzeigen. Wiederum setzt man auf die Wissenschaft: Care oder Case ManagerInnen sollen es richten. Abgesehen davon, dass die wenigsten alten Menschen und ihre Angehörigen mit der englischen Sprache vertraut sind, befremden diese Begriffe auch deshalb, weil die Funktion und Bezahlung dieser übergeordneten, neu zu schaffenden Koordinationsstellen nicht einmal angedacht ist, geschweige denn, dass man auf Erfahrungswerte zurückgreifen könnte. Statt zunächst einmal naheliegende und bezahlbare Lösungen anzustreben, setzt man auf weit hergeholtes, unberechenbares Terrain. Außerdem steht das Case Management in einem gewissen Widerspruch zur oben erwähnten Family Nurse. Während die Family Nurse die verschiedensten Hilfen in Zusammenarbeit mit Familienmitgliedern selbst leisten soll, beschränkt sich Case Management auf Beratung, Planung und Koordination der Leistung. Das ist ein entscheidender Unterschied.

In den Stabsfunktionen der Pflege sitzen heute bereits überwiegend Personen, die viel zu weit von der Basis entfernt sind und Entscheidungen über die Köpfe von pflegebedürftigen Menschen, pflegenden Angehörigen und Pflegefachkräften hinweg treffen. Um es noch klarer zu sagen: Die alten Menschen in Krankenhäusern und Heimen oder zu Hause brauchen keine studierten Leute, die ihnen das Essen reichen, sie waschen und durch den Tag begleiten, sie sehnen sich vor allem nach freundlichen Menschen, die etwas Zeit für sie haben. Genau daran mangelt es in der Pflege am allermeisten. Wir plädieren für einen gesunden Mix aus guten Fachkräften und menschlich geeigneten und fachlich begleiteten HelferInnen. Wichtiger als der Nachweis einer formalen Qualifikation sollte die soziale Kompetenz sein. Die für den praktischen Alltag nötige Fachlichkeit kann man jedem in relativ kurzer Zeit beibringen, die menschlichen Voraussetzungen lassen sich lehrplanmäßig nicht erzeugen. Wir plädieren für eine stärkere Einbeziehung von Angehörigen und freiwilligen Helfern, die regelmäßig bestimmte Aufgaben übernehmen. Wir plädieren für andere Ausbildungsschwerpunkte und ein anderes Rollenverständnis der professionell Pflegenden. Nicht zuletzt plädieren wir für die konsequente Umsetzung des Bezugspflegeprinzips in allen Krankenhäusern und Pflegediensten.

6. Verbesserung der Selbstschutzmöglichkeit von pflegebedürftigen Menschen mit Hilfe der "Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen"

Die Charta ist nichts anderes als eine Konkretisierung von Rechten und Merkmalen "guter Pflege" in einer für den pflegebedürftigen Menschen oder dessen gesetzlichen Vertreter bestärkenden Weise. Sie hat letztlich ihre Grundlage in Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes und verdeutlich nur das, was für uns alle selbstverständlich sein sollte: Die Menschenwürde ist unantastbar! Den wenigsten Betroffenen sind diese Zusammenhänge bzw. Rechte im Einzelnen bekannt, weshalb eine Missachtung im Alltag als unabänderlich hingenommen wird. Zum besseren Selbstschutz des pflegebedürftigen Menschen wäre eine solche "Aufklärungsschrift" eine wertvolle Hilfe. Den meisten Leistungsanbietern bereitet diese Charta hingegen Kopfzerbrechen, da sie genau wissen, diesen Rechten und Merkmalen in weiten Teilen nicht entsprechen zu können. Sie wissen, dass ihr jetziges Personal dazu weder quantitativ noch qualitativ in der Lage ist. Die Reaktion des Bundesverbandes der Wohlfahrtsverbände machte dies schlagartig bewusst. Dieselben Leute, die bis dahin nicht müde wurden zu betonen und zu beteuern, dass in ihren Reihen die Pflege in Ordnung sei und von Missständen gar keine Rede sein könnte, erklärten nun, dass es ihnen unter den jetzigen Rahmenbedingungen nicht möglich sei, den in der Charta formulierten Qualitätsanspruch zu erfüllen. Erst allmählich haben einige be­griffen, dass die Charta keine Luxusqualität beschreibt, sondern lediglich das, was nach heutigem Kenntnisstand und Rechtslage erwartet werden kann. Bislang konnten sich Heime auf ein abstraktes Leitbild im Stile von "Bei uns steht der Mensch im Vordergrund", zurückziehen. In dem Moment, wenn alle Pflegebedürftigen oder deren Vertreter nachlesen können, auf was sie konkret Anrecht haben, werden manche Heime schwer in Bedrängnis geraten und einiges ändern müssen. Darum begrüßen wir als Pflege-Selbsthilfeverband e.V. die Verbreitung der Charta sehr und werden mit aller Kraft daran mitwirken.

In der Charta sehen wir einen Grundkonsens im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen, eine Mindestqualität, auf die per Gesetz und kulturellem Standard Anspruch besteht. Aus schwer verständlichen Gründen wollen die politisch Verantwortlichen diese Charta nicht zum verbindlichen Maßstab für alle Leistungsanbieter in der Pflege erklären. Vielmehr soll es jedem frei gestellt bleiben, die Grundrechte im Umgang mit Pflegebedürftigen zu erfüllen oder nicht.

Warum sollten sich Leistungsanbieter die Mühe machen, den Merkmalen guter Pflege zu entsprechen, wenn deren Missachtung keine Konsequenzen für sie hat?

7. Überreglung vermeiden und abbauen

Kürzlich feierte die Pflegeversicherung ihren 10 ten Geburtstag. Wie nicht anders zu erwarten, wurde diese Säule der sozialen Absicherung in den höchsten Tönen gelobt und gewürdigt. Dass es auch Schattenseiten gibt und zwar recht gravierende, wurde verschwiegen.

Beispiel: Vor Einführung der Pflegeversicherung kostete der durchschnittliche Pflegeheimplatz 3.000 DM, jetzt, 10 Jahre später liegt er bei 3.000 Euro.

Es wäre interessant, einmal festzustellen, wodurch genau diese 100prozentige Teuerungsrate binnen so kurzer Zeit zustande gekommen ist. Eine Qualitätssteigerung bei Pflege und Betreuung hat es jedenfalls nicht gegeben. Vielerorts wurde seither Personal drastisch abgebaut und am Gehalt der Pflegenden hat sich wenig geändert. Angesichts der steigenden Kosten und der anhaltenden Beschwerden sieht sich die Politik nun genötigt, eine grundlegende Pflegeversicherungsreform durchzuführen. Dabei steht heute schon fest, was auch immer dabei herauskommt, Pflege wird teurer werden. Die Versicherungsrücklagen sind demnächst aufgebraucht, die Beiträge werden steigen und damit es einigermaßen bezahlbar bleibt, werden Leistungsanbieter noch stärker auf die Personalbremse treten, mit der Folge einer weiteren Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Pflege.

An dieser enormen Verteuerung, speziell bei der stationären Pflege, dürfte der politische Regulierungseifer seit Einführung des Pflegeversicherungs- gesetzes wohl den größten Anteil haben. Genauere Untersuchungen dieses Phänomens gibt es leider nicht. Fast alle Vorschriften, die seither erlassen worden sind, ziehen einen Rattenschwanz an Maßnahmen nach sich, die den Leistungsanbieter Zeit und Geld kosten. Es muss nicht Aufgabe der Politik sein, Leistungsanbietern im Einzelnen vorzuschreiben, wie sie eine Einrichtung zu führen, die Pflege und Betreuung zu organisieren und zu dokumentieren haben. Stattdessen wäre es Aufgabe des Staates, durch ein ausreichendes Maß an Kontrollen, die Beachtung elementarer Grundrechte in den Einrichtungen sicher zu stellen. Hier besteht ein dringender Handlungsbedarf. In dem Moment, in dem Heimbetreiber regelmäßig konsequent daran gemessen werden, ob die Einrichtung elementare Grundrechte im Umgang mit Bewohnern und Mitarbeitern gewährleistet, wird sich die Spreu vom Weizen wie von selbst trennen. Niemand wird gezwungen, ein Heim zu betreiben. Das sollte die Politik den Lobbyisten und Heimbetreibern, die sich gegen eine Verbesserung externer Kontrollen wehren, unmissverständlich klar machen.

8. Pflegewissenschaft sollte der Praxis dienen und diese nicht zusätzlich belasten

Ohne Studie wird in der Pflege fast nichts mehr gefördert. Statt nahe liegende Lösungen direkt anzustreben und hierfür finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, muss erst einmal eine Studie her. So lesen sich einige Empfehlungen des RTP wie Auftragsbeschaffungsmaßnahmen für wissenschaftliche Institute. Flankierende Forschung, ohne sie darf nichts Neues probiert und nichts Bewährtes gefördert werden. Dringend raten wir hier zur Wahrung von Verhältnismäßigkeit und Augenmaß.

Auch stellt sich die Frage, warum immer wieder Studien in Auftrag gegeben werden, nur um zu erfahren, was praktisch Betroffene und Tätige seit Jahr und Tag berichten oder zur Verbesserung vorschlagen. Das liegt wohl daran, dass Erfahrungen und Konzepte die nicht mit wissenschaftlichen Methoden ermittelt wurden keinen Wert mehr habe. Es sind Einzelmeinungen, die nicht zählen. Andererseits: Was nützen uns all die Studien, wenn selbst daraus keine Konsequenzen für die Praxis gezogen werden? Es gibt so viele mit staatlichen Mitteln geförderte und positiv bewertete Projekte, die über die Modellphase hinaus keine Wirkung erzielen konnten. Sie werden über die Fachpresse zur Kenntnis gegeben und verschwinden anschließend in der Versenkung. Statt die Implementierung guter Erfahrungen voranzutreiben und hierfür Mittel einzukalkulieren, wendet man sich sogleich einem neuen Projekt zu, dem es nach Beendigung genauso ergeht wie den vorangegangen.

Ungeachtet der Tatsache, dass Pflegekräfte an der Basis täglich darum kämpfen wenigstens elementare Anforderungen erfüllen zu können, produziert die Pflegewissenschaft sog. Expertenstandards, dessen formale Umsetzung zusätzliche Zeit kostet und Arbeit macht; in einer Größenordnung die in keinem Verhältnis zum Nutzen steht der dadurch bestenfalls erzielt werden könnte. Siehe dazu auch meine Kritik unter www.pflegekonzepte.de

Die Bestrebung nach Verwissenschaftlichung von Pflege hatte bislang, bezogen auf die Praxis, vor allem den Effekt, dass viel mehr geschrieben wird. Der heute landläufig betriebene Dokumentationsaufwand ist jedoch aus praktischer und formal juristischer Sicht weder vertretbar noch notwendig. Alle stöhnen angesichts der Fülle angeblich unverzichtbarer Formulare, die ausgefüllt werden müssen, durch die wertvolle Zeit für die eigentliche Pflege verloren geht. Hiermit werden keineswegs die Interessen des Patienten/Bewohners bedient, darüber erfährt man in der Dokumentation so gut wie nichts. Man bedient ein wissenschaftlicherseits postuliertes Format, man dokumentiert der eigenen Absicherung wegen und weil der MDK dies angeblich so verlangt. Ich ereifere mich schon seit Jahren über diesen Blödsinn, aber es wird immer schlimmer. Auch die Arbeitsgruppe „Entbürokratisierung“ wagte es nicht, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Wiederum setzten sich dort ganz offensichtlich die argumentationsgewandten Pflegetheoretiker durch.

Wir haben keinen Mangel an Wissen, wie gute Pflege organisiert und gestaltet werden kann. Die Fachliteratur ist voll von super Ideen und nachahmenswerten Beispielen. Wir haben einen Mangel an Durchsetzungskraft und Konsequenz, weshalb gute Beispiele Ausnahmeerscheinungen bleiben - begrenzt auf wenige Idealisten in dieser Branche.

Adelheid von Stösser, 1.Vorsitzende